Laudatio

Wolfgang Frühwald

Laudatio auf Universitätsprofessor Dr. Dr. h.c. Anton Zeilinger (Wien) am 7. Mai 2006 in Mainz

Was ist Wirklichkeit? Erwarten Sie bitte von mir keine gültige Antwort auf diese uralte Menschheitsfrage, die von Aristoteles über Thomas von Aquin bis zu Kant und Hegel und Wittgenstein (und Anton Zeilinger) immer wieder gestellt und recht unterschiedlich beantwortet wird. Sie ist die eigentlich wissenschaftliche Frage nach dem, was ist, sie hängt aber eng zusammen mit jener angeblich völlig unwissenschaftlichen Leibniz-Frage, warum denn da nicht nichts sei. Hans Magnus Enzensberger hat beide Fragen ironisch und doch recht ernsthaft deshalb neu gestellt, weil der Mensch nicht nur das „zoon logon echon“, das heißt ein mit reflexionsfähiger Sprache begabtes Wesen, ist, sondern auch der homo quaerens, der unaufhörlich und unentwegt fragende Mensch, der wissen will, woher er kommt, was ihm geschieht, wohin er geht:

„Warum ‚ich‘, und wozu?
Was, bitte, soll diese ewige Fragerei?
Wozu immer Treu und Redlichkeit,
und warum nicht? Wer ist schuld
an den unaufhaltsamen Fortschritten?
Gab es vor dem Big Bang
Auch schon so viele Depressionen?
Was ist mit dem Sport,
dem Haß und dem Geld?
Warum ist nicht vielmehr weniger,
oder mehr? Und warum ist
nicht vielmehr nichts?“

Unsere Teleskope dringen zwar immer tiefer in das All vor, doch je weiter sie gelangen, umso tiefer reichen sie in die Vergangenheit des Kosmos; inzwischen bis auf 300.000 Jahre an den Urknall heran. Der Blick in die Zukunft ist uns, trotz aller Mühen, verwehrt. So gibt es auf die Frage nach dem, was sich hier und jetzt, also in der Welt nach dem Big Bang, begibt, unterschiedliche Antworten, die alle eine gewisse Plausibilität für sich beanspruchen können. Die Sprache, jenes bevorzugt menschliche Instrument, sich die Realität außer uns anzueignen, soll „nur ein ganz schmaler Strom durch das Feld der Wirklichkeit“ sein. So jedenfalls behauptet Jaron Lanier, ein Prophet jener virtual reality, die nur im Computer existiert, von Menschen mit Daten-Anzügen aber so gehandhabt werden kann, als sei sie real existent. Offenkundig erschließt diese cyber-space-Technik, die Technik der Datenhandschuhe und der Simulationsanzüge, erfunden für Astronauten, die am Computer den außen, an der Raumstation arbeitenden Roboter so bewegen und steuern, als seien sie dieser Roboter selbst, einen Zugang zu Welten, die wirklich scheinen wie die Dinge, die uns umgeben. „Nehmen wir einmal an“, meinte Lanier, „man könnte mit einer Zeitmaschine zu den ersten Wesen zurückgehen, die eine Sprache erfanden, zu unseren Vorfahren irgendwann und könnte ihnen VR-Anzüge geben. Hätten Sie dann je die Sprache erfunden? Ich glaube kaum, denn sobald man die Welt irgendwie verändern kann, verfügt man damit über äußerste Macht und Ausdrucksfähigkeit. Beschreibungen würden sich dagegen ziemlich beschränkt ausnehmen.“ Laniers Frage kann freilich auch anders beantwortet werden als er selbst es tat. Weil nämlich ohne die Sprache die vielleicht 2.600 Individuen aus der Spezies homo sapiens, die vor 160.000 Jahren lebten, wohl kaum die Evolutionsbedingungen gefunden hätten, die ihnen die Ausbreitung in eine Kolonie von mehr als sechs Milliarden Menschen ermöglicht haben. Deutlich aber ist, daß der alte Menschheitstraum, sprachfreie Alternativen zur sprachlichen Aneignung der Welt zu finden, noch nicht ausgeträumt ist.

Mythos und Ritual haben in grauer Vorzeit versucht, sich diesen Zugang zu öffnen, die negative Theologie der Väter und in ihrem Gefolge die abendländische Mystik haben versucht mit apophatischem Sprechen, also mit dem Sprechen darüber, was Gott nicht ist, eine Wirklichkeit jenseits der Wirklichkeit zu erfassen. Daß Mythos, Ritual und andere sprachfreie Versuche, sich die Wirklichkeit anzueignen, nun in technizistischer Form wiederkehren, ist kein Wunder. Die Welt ist so komplex geworden, daß wir sie als ganze nicht mehr denken können, daß sie durch die Synthetisierung unterschiedlicher wissenschaftlicher Zugänge nicht erfaßbar ist. Auch die seriöseren Versuche, sich sprachfrei der Realität zu bemächtigen, das sich selbst deutende Experiment, die Computer-Visualisierung komplexer (weder in Beschreibung, noch in mathematischer Formelsprache faßbarer) Zustände, sind bisher nur Ergänzungen des sprachlichen und damit rational distanzierenden Zugangs zur Welt. Die Wirklichkeit, je enger wir uns ihr zu verschwistern scheinen, entzieht sich unserem Zugriff, doch sind noch immer Theorie und Experiment die bevorzugten Methoden solcher Zugänge.

Wie immer man die unterschiedlichen Weltdeutungen und Welterfahrungen beurteilen mag, sie bewegen sich im Umkreis eines Weltbildes, das die Verstärkung menschlicher Kräfte und Fähigkeiten meint, um das dominium terrae, das dem Menschen auferlegt ist, anzutreten. „Nachdem zunächst körperliche Funktionen des Menschen in der industriellen Revolution maschinell verstärkt und ersetzt wurden“, schreibt Klaus Mainzer, „schließlich intelligente Funktionen mit KI- und Roboterentwicklung simulierbar sind, scheinen nun auch Einbildungskraft, Phantasie und Gefühle technisch verstärkbar und veränderbar zu sein.“ Aber auch diese Veränderung bleibt gebunden an ein physikalisches Weltbild, in dem Raum, Zeit und Kausalität herrschen, und damit ein Kategoriensystem, das seit Max Plancks Behauptung einer „Energiequantelung“ (am 14. Dezember 1900) fragwürdig geworden ist. Um Energiequanten ist es zunächst gegangen, erst nach der Jahrhundertwende, bei Einstein, um Lichtquanten.

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Was Anton Zeilinger versucht, im Experiment, in der Theorie und im wissenschaftlichen Fragen, ist dem gegenüber ein konsequent neuer Schritt, die Auflösung des alten physikalischen Rahmens, die konsequente Fortentwicklung der Quantenphysik. Max Planck selbst ist diese Fortentwicklung unheimlich gewesen, weil sie (wie Anton Zeilinger verdeutlicht) die Aufgabe der Vorstellung verlangt, „daß alle Phänomene in der Natur kontinuierlich ablaufen“, und weil Planck – wie Einstein, Bohr, Schrödinger, Heisenberg und andere – erkannte, „daß diese Aufgabe des Kontinuums letztlich eine Aufgabe unseres Weltbildes bedeutet“. Die von Anton Zeilinger und seinen Mitarbeitern experimentell bewiesenen Vorgänge der Lichtquanten- oder Photonenverschränkung hat Einstein gar als eine „spukhafte Fernwirkung“ bezeichnet, an die zu glauben er sich geweigert hat. „Wir können davon ausgehen“, sagt Anton Zeilinger, „daß die Welt tatsächlich so verrückt ist, wie Einstein hoffte, daß sie nicht ist.“ Zeilingers Experimente sind also nicht mehr der Versuch, über die Erweiterung des menschlichen Bewußtseins mehr von dem zu erfahren, was die Welt konditioniert, zum Beispiel durch den zwischen Nervenzellen und Chips hergestellten Informationsfluß ein künstliches Gehirn, eine denkende Maschine zu konstruieren, um die Vorgänge in der Wirklichkeit schneller und exakter berechnen zu können oder auch um ausgefallene Hirnfunktionen prothetisch ersetzen zu können; sie sind nicht der Versuch, der Wirklichkeit (die dabei als außer uns und als unabhängig von uns existierend vorausgesetzt wird) mit Datenanzügen nahezukommen, welche auch die Sinneseindrücke des menschlichen Organismus simulieren. Diese Experimente bedeuten vielmehr einen Umsturz im Reich der Wirklichkeit selbst, die ohne den Beobachter zumindest nicht so besteht, wie sie besteht. Um nicht mißverstanden zu werden: nicht Anton Zeilinger hat diesen Umsturz allein vollbracht, aber er hat experimentell nachgewiesen, was sich Planck und Einstein nicht einzugestehen wagten, was Heisenberg noch für nicht möglich gehalten hat. Im subatomaren Bereich hätten die Fachgenossen Zeilingers Experimenten Realitätscharakter zugestanden, aber wie steht es um andere Größenordnungen? Die Quantentheorie ist nach Zeilinger nicht auf kleine Systeme beschränkt, er erwartet, daß ihre Wirkung nicht nur im subatomaren Bereich, sondern an Organismen bis zur Größe von Viren nachgewiesen werden kann, bei Kohlenstoffmolekülen ist es bereits gelungen. Auch ist es gelungen, nicht nur zwei, sondern vier Photonen in einem Cluster so zu verschränken, daß alles was einem Teilchen geschieht, zugleich (ohne Raum-Zeit-Kontinuum) allen anderen geschieht. Die technischen Anwendungen dieser Erkenntnis der Übertragbarkeit von Informationen innerhalb verschränkter Photonen und die vor Hackern sichere Verschlüsselung der übertragenen Information, die Quantenkryptographie, hat Anton Zeilingers Gruppe in den Grundzügen entwickelt und experimentell erprobt, der Quantencomputer ist angedacht. Aus hochspekulativen Vorhersagen also, an die jene, die sie gemacht haben, selbst nicht recht glauben wollten, werden nun Techniken entwickelt, für welche die internationale Presse keine anderen Ausdrücke mehr findet als die aus der Science-Fiction-Literatur. Das ist so falsch nicht, denn dieses Genre der Literatur vermag uns an das Umdenken zu gewöhnen, das uns die Quantenphysik abverlangt.

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Jürgen Habermas hat bekanntlich darauf hingewiesen, daß die großen Kränkungen, die das neuzeitliche Subjekt seit Kopernikus und Kepler erfahren hat, bis hinein in die jüngste, biotechnische Kränkung der Eigenliebe, die uns der Verfügung über den eigenen Leib zu entheben versucht, „Dezentrierungserscheinungen“ gewesen sind. Sie haben die Erde aus der Mitte des Kosmos, den Menschen aus der Mitte der Welt, den Leib aus der Mitte unserer Ichvorstellung genommen. Die Quantenphysik aber, so sagt Niels Bohr in Michael Frayn’s genialem Stück „Copenhagen“ (1998), stellt den Menschen, den Beobachter wieder zurück in die Mitte des Universums. Damit könnte doch der Nachweis des Prinzips der Nichtlokalität und der Nichtkausalität in der Quantenphysik die Inthronisierung des Subjekts in den exakten Naturwissenschaften bedeuten? Das aber wäre tatsächlich ein Umsturz, der die Erfahrung aller neueren Jahrhunderte widerlegt. Er sei kein „Anhänger des Konstruktivismus“, sagt Anton Zeilinger, „sondern ein Anhänger der Kopenhagener Interpretation. Danach [...] stellt sich letztlich heraus, daß Information ein wesentlicher Grundbaustein der Welt ist. Wir müssen uns wohl von dem naiven Realismus, nach dem die Welt an sich existiert, ohne unser Zutun und unabhängig von unserer Beobachtung, irgendwann verabschieden.“ Wenn wir das tatsächlich tun und damit eingestehen, daß „die Welt von morgen nicht einfach vorbestimmt [ist] durch die Welt von heute“, dann provoziert dies sogleich die Frage nach der Wirklichkeit, die in unserer Erfahrung schon kompliziert genug ist und nun auch noch in ihren elementaren Kategorien, Raum, Zeit und Kausalität, infragegestellt wird. Nach der Kopenhagener Deutung der Quantenmechanik, zu der Werner Heisenberg die Unbestimmtheitsrelation und Niels Bohr die Komplementarität als zentrale Theorien beigesteuert haben, ist – ich zitiere Anton Zeilinger – „der quantenphysikalische Zustand eines Systems nicht ein Feld oder eine sonstige Entität, die sich in Raum und Zeit, sozusagen ‚da draußen‘, ausbreitet. Im Gegenteil. Sie ist lediglich unsere Darstellung des Wissens, das wir über die konkrete physikalische Situation, die wir untersuchen, besitzen.“ Oder anders, mit einem berühmten, von Aage Petersen überlieferten Wort von Niels Bohr ausgedrückt: „Es gibt keine Quantenwelt. Es gibt nur eine abstrakte quantenphysikalische Beschreibung. Es ist falsch zu glauben, es sei die Aufgabe der Physik herauszufinden, wie die Natur beschaffen ist. Die Physik betrifft, was wir über die Natur sagen können.“ Was aber können wir über die Natur sagen? Ludwig Wittgensteins „Tractatus logico philosophicus“ beginnt bekanntlich mit dem Satz: „Die Welt ist alles, was der Fall ist.“ Anton Zeilinger bezeichnet diese Definition als eingeschränkt. „Der quantenmechanische Zustand ist zwar eine Beschreibung des makroskopischen Apparats und der Beobachtungen an diesem Apparat, die notwendig sind, um Vorhersagen über die Zukunft zu machen. Jedoch sind diese Vorhersagen über die Zukunft Aussagen über alles, was der Fall sein könnte. Selbstverständlich sind diese Aussagen auch Teil der Welt. / Daher ist die Welt mehr als was Wittgenstein meinte. Die Welt ist alles, was der Fall ist, und auch alles, was der Fall sein kann.“ Nebenbei bemerkt: Für einen Literarhistoriker (wie ich es bin) ist dies keine Zumutung an das Denken, weil er ständig, ganz ohne Zutun eines Simulators oder eines Computers, in Welten lebt, die sind, als ob sie seien, und deshalb sind: im Gedicht Goethes vielleicht, in einem Gedicht Gottfried Benns oder gar in der Vorstellungswelt des Andreas Gryphius. „Aber wem es wirklich ernst ist / mit virtual reality“, sagt Enzensberger, „sagen wir mal: / Füllest wieder Busch und Tal, / oder: Einsamer nie / als im August, oder auch: / Die Nacht schwingt ihre Fahn, / der kommt mit wenig aus. / [...] als Hardware ein Bleistiftstummel – / das ist alles.“ Die Menschen des 18. Jahrhunderts haben in ihren Hainen und Gärten nicht nur die wirklichen Toten betrauert, sondern auch Gestalten der Literatur und an ihren Gräbern bittere Tränen vergossen. Für sie war der mitleidigste Mensch der beste Mensch, ihnen war alles recht, was diesen Menschen durch Schrecken und Mitleid besserte. Anton Zeilinger knüpft durchaus an Gedanken an, die in der Vormoderne schon gedacht und wieder verworfen wurden; am liebsten würde er sich als einen „experimentellen Naturphilosophen“ sehen.

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Der Kreis um Niels Bohr in den zwanziger Jahren des letzten Jahrhunderts, in dem die Kopenhagener Deutung entstanden ist und innerhalb von fünf Jahren die grundlegenden Bastionen des alten Weltbildes geschleift wurden, war so zukunftweisend, daß er noch in der utopischen Literatur der Gegenwart eine zentrale Rolle spielt. Michel Houellebecq hat in seinem Buch „Elementarteilchen“ (1998), verdeutlicht, weshalb dieser Kreis aus jungen, begeisterten, später oftmals mit dem Nobelpreis ausgezeichneten Physikern so faszinierend kreativ gewesen ist. Vermutlich lag dies an der zugleich strengen und weiten Regie von Niels Bohr, der in den Kreis seiner Studenten Physiker, Politiker, Wissenschaftler anderer Fachrichtungen und Künstler eingeladen hat, um ihnen zuzuhören, mit ihnen zu diskutieren und so das schöpferische Denken seiner Schüler zu stimulieren. „Er war“, heißt es bei Houellebecq, „von fast pedantischer Genauigkeit und duldete keinerlei annähernde Erklärung bei der Auswertung der Versuche; aber auf der anderen Seite sah er keine Idee von vornherein als verrückt, kein überliefertes Konzept als unantastbar an.“ Auch in diesem Sinne ist Anton Zeilinger ein Anhänger der Kopenhagener Schule, von sich selbst berichtet er, er entscheide sich, wenn er zwei oder mehrere Forschungswege vor sich habe, „stets für den radikaleren Weg“. Der Erfolg hat ihm bisher recht gegeben.

Insofern ist es nur konsequent und klug, Michael Frayn’s Dreipersonenstück „Copenhagen“ (1998) über die Begegnung von Werner Heisenberg und Niels Bohr im September 1941 in Kopenhagen gleichsam in die Mitte der Vortragsreihe zu stellen, die Anton Zeilinger in Mainz gestaltet. Michael Frayn nämlich hat die Grundkomponenten der Kopenhagener Deutung, die Unschärferelation und die Komplementarität, als Strukturvorlage seines Textes gewählt und sie damit in den Bereich der menschlichen Sozialbeziehungen übertragen. Er bietet eine ganze Serie von Antworten auf die ungelöste (von den Beteiligten unterschiedlich erinnerte) Frage, was Heisenberg in Kopenhagen 1941, mitten im Krieg, gewollt habe, was Bohr und Heisenberg wohl auf jenem umrätselten Spaziergang miteinander gesprochen haben, von dem sie früher als erwartet zurückgekehrt sind? Heisenberg ist in diesem Stück der jeweils Unentschiedene, der nicht festzulegen ist, Bohr gleichsam das komplementäre Prinzip zu seinem nicht zu fassenden Freund. Margarethe Bohr aber, die Dritte um Bunde, ist die Stimme des gesunden Menschenverstandes, die sagt, was die beiden kompliziert denkenden Männer sogar zu denken fürchten. Der unentschiedene Heisenberg ist dabei – wie es der historischen Realität wohl nahekommt – der Mathematiker, der die atomare Welt plastisch zu sehen vermag, sie gleichwohl am liebsten nur in Differentialgleichungen beschrieben hätte; Niels Bohr aber ist ein Physiker, der den Freund immer wieder darauf hinweist, daß alles, was sie beide denken und sagen und diskutieren, auch für Margarethe verständlich sein muß. Frayn’s Stück hat in London und am Broadway Triumphe gefeiert, die Deutschen haben es wenig beachtet. In New York sollen die Menschen tränenüberströmt nach der Aufführung nachhause gegangen sein. Sie sind sich in diesem Text selbst begegnet, ihrer Vergangenheit und ihrer Gegenwart, der Schönheit der Freundschaft unter Wissenschaftlern und ihrem Zerfall.

Weshalb also ist Heisenberg, nicht lange vor dem Beschluß zur Deportation der dänischen Juden, nach Kopenhagen gekommen? Wollte er seinen Freund, den Halbjuden Bohr, davor warnen? Immerhin hat später ein deutscher Diplomat, Georg Duckwitz, den Zeitpunkt der Deportation den Dänen verraten und die deutschen Patrouillenboote zwischen Dänemark und Schweden als nicht einsatzfähig erklären lassen. Daß eine ganze Armada kleiner Fischer- und Ruderboote an diesen Patrouillenbooten in der Nacht der Flucht mit 8000 Menschen an Bord unbehelligt vorbeigekommen ist, „das war, als würde sich das Rote Meer teilen“. Eines dieser dänischen Fluchtboote ist noch heute in Yad Vashem in Jerusalem zu sehen. Heisenbergs Besuch bei Bohr könnte aber auch andere Gründe haben: Wollte er von Bohr erfahren, wie weit das Atomprogramm der Alliierten, an dem er Bohr beteiligt wähnte, gediehen sei? Wollte er einen Deal anbieten, daß beide Seiten, die deutsche und die der Alliierten, auf die Weiterentwicklung ihrer jeweiligen Atom-Programme verzichten sollten? Wollte er Bohr insgeheim auf die „andere“ Seite ziehen? Oder ist er gar nur, wie Margarethe unverblümt sagt, gekommen, um anzugeben? Wir wissen es nicht und Michael Frayn bietet uns die Sequenz seiner Antworten an, ohne sich für eine zu entscheiden. Denn die Welt – wir wissen es jetzt – ist nicht nur „alles, was der Fall ist“, sie ist „auch alles, was der Fall sein kann“.

Die Alexander von Humboldt-Stiftung hat im Dezember 2001, zu Ehren des 100. Geburtstages ihres Gründungspräsidenten Werner Heisenberg, in Bamberg ein wissenschaftliches Kolloquium veranstaltet, in dessen Mitte eine szenische Lesung von Michael Frayn’s Stück gestanden hat, gelesen von den Schauspielern der Londoner Uraufführung in Anwesenheit des Autors. Martin Heisenberg, ein bekannter Genetiker und Neurobiologe an der Universität Würzburg, das vierte von den insgesamt sieben Kindern der Heisenbergs, nahm an diesem Kolloquium ebenso teil, wie Heisenbergs letzte Assistenten und der Geschäftsführer, den er 1953 für die Humboldt-Stiftung gewonnen hatte. Wir haben mit Michael Frayn und seinen Schauspielern bis tief in die Nacht hinein unter anderem über seine These diskutiert, die er wiederum Margarethe Bohr in den Mund legt. „Ich werde Dir noch einen Grund sagen“, sagt sie zu Heisenberg, „warum du die Unbestimmtheit entwickelt hast: Du hast eine natürliche Affinität dazu.“ Diese These, insbesondere, daß die Unbestimmtheit auch das politische Handeln seines Vaters bestimmt habe, hat Martin Heisenberg entschieden bestritten. Sein Vater sei alles andere als unentschieden und unbestimmt gewesen. Im Verlauf dieser Diskussion kam es weit nach Mitternacht zu einem gleichsam quantenphysikalischen Höhepunkt, als Martin Heisenberg fest sagte: „Nein. Das ist nicht mein Vater.“ „Richtig“, antwortete Michael Frayn, „das ist nicht Ihr Vater, das ist mein Heisenberg.“ Jeanne Rubner hat damals in der SÜDDEUTSCHEN ZEITUNG (vom 1. Oktober 2001) geschrieben, Michael Frayn erwarte sich durch die Öffnung des Nachlasses von Niels Bohr „keine neue Wendung und damit auch keine komplett neue Version seines Theaterstücks. Denn er hebt mit ‚Kopenhagen‘ die Komplementarität der Auffassungen hervor – die quantenmechanisch inspirierte Unschärfe menschlichen Handelns“.

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Ich habe dies so ausführlich geschildert, weil Anton Zeilinger, seit er mit dem Humboldt-Forschungspreis ausgezeichnet wurde, zu dieser weltweiten Humboldt-Familie gehört, weil er, darin Bohr durchaus ähnlich, versucht, in Wort und Schrift (zum Beispiel in den Büchern „Einsteins Schleier“, 2003, und „Einsteins Spuk“, 2005) die Welt der Quantenphysik und ihre Mysterien in einfacher und erzählender Sprache auch Margarethe Bohr (und das heißt: uns allen) zu erklären. Daß er dabei zum Erfinder des „Beamens“ erklärt wurde, obwohl gerade nicht die Masse (falls man davon überhaupt sprechen kann), sondern die Information seiner Teilchen „teleportiert“ wird, nimmt er mehr oder weniger gelassen hin. Er ist weit in der Welt herumgekommen, von Ried in Oberösterreich, wo er am 20. Mai 1945 geboren wurde, über das MIT, Melbourne, Amherst, Grenoble, München, das Collège de France in Paris, Oxford und Innsbruck nach Wien; er ist weit gereist, so weit, daß er die global gleichlaufende Berichterstattung, ihre auf das Interessante setzenden, zugespitzten Schlagzeilen zur Genüge kennt und oft selbst seine Freude daran hat. Die Ernsthaftigkeit seines Denkens und Forschens hat darunter nie gelitten. Als ihm die Interview-Wünsche zuviel wurden und er die immer gleiche Auskunft mit jeweils anderen Worten immer wieder geben mußte, weil sich mancher Journalist seine Versuche nicht anders vorstellen konnte als durch die Bilder der Star Trek-Serie (des Fernsehens), hat er eine Pressereferentin engagiert, die dem Chef nun so viel Zeit ersparte, daß er wieder über seine Experimente nachdenken, neue Versuchsanordnungen ersinnen konnte, statt sie ständig nur zu erklären. Anton Zeilinger ist ein Physiker, der den (auch vorhandenen) Event-Charakter der Experimentalphysik durchaus benützt, um Rückenwind von jener Öffentlichkeit zu bekommen, die er braucht, um seine Experimente zu finanzieren und durchführen zu können. Er will verstanden werden, er will den Schleier des Geheimnisvollen von der Quantenphysik ziehen. Deshalb läßt er sich mit einem Fußball unter dem Arm fotografieren, wenn er mit fußballähnlichen Molekülen (sogenannten Fullerenen) arbeitet; er diskutiert mit dem Dalai Lama, mit dem brasilianischen Bestsellerautor Paulo Coelho, er eröffnet das Brucknerfest in Linz und nimmt mit immer gleichbleibendem, beruhigendem Humor Orden und Ehrenzeichen in aller Welt entgegen. Anton Zeilinger ist Mitglied der Friedensklasse im Orden Pour le Mérite, er ist Träger des hoch angesehenen King Faisal-Preises, Honorarprofessor in China und Ehrendoktor der Humboldt-Universität zu Berlin, um nur wenige Auszeichnungen hervorzuheben..

Anton Zeilinger ist verheiratet und hat drei erwachsene Kinder. Seine Frau hat ein Magister-Examen in Pharmazie gemacht. Sie hat ihn bei guter Gesundheit gehalten, so daß er seinen Verpflichtungen in allen vier Himmelsrichtungen nachkommen kann. Seine österreichischen Landsleute, schrieb vor einigen Jahren Thomas Vašek in der ZEIT, „würden [Anton Zeilinger] den Nobelpreis am liebsten per Akklamation verleihen“. Meine Damen und Herren: Ich bin überzeugt, daß es Ihnen am Ende seiner Vortragsreihe in Mainz ebenso ergehen wird.

Professor Dr. Wolfgang Frühwald Römerstädter Straße 4k D-86199 Augsburg